Im aktuellen Sommersemester biete ich an der Universität Konstanz erneut einen Kurs zur sozialwissenschaftlichen Arbeit mit Text- und Bilddaten an. Der Kurs biete ich wieder gemeinsam mit Oliver Posegga an der Universität Bamberg an.
Interview: Desinformation, Fehlinformation und Verschwörungstheorien im Umgang mit COVID-19
Welche Rolle spielen Des- und Fehlinformation im Umgang mit dem Virus? Wie gefährlich sind sie, und wie verbreiten sie sich über die Sozialen Medien? Was kann die Wissenschaft, was kann der Gesetzgeber unternehmen, um „Fake News“ in Zeiten von COVID-19 entgegenzutreten? Der Konstanzer Medienforscher Andreas Jungherr geht diesen Fragen im Interview mit dem Konstanzer Uni-Magazin campus.kn nach.
Welche Rolle spielen Desinformation, Fehlinformation und Verschwörungstheorien in unserem Umgang mit COVID-19?
COVID-19 stellt uns alle vor große Herausforderungen im Umgang mit Informationen. COVID-19 betrifft uns alle direkt und persönlich. Gleichzeitig fällt es wahrscheinlich uns allen schwer, Informationen zu COVID-19 auf ihren Faktengehalt oder ihre Qualität hin einzuschätzen. Nicht zuletzt, da sich die Faktenlage zu COVID-19 ständig verändert. Entsprechend passen Regierungen und Wissenschaft kontinuierlich ihre Prognosen an oder korrigieren Handlungsempfehlungen. Dies wiederum gibt ihren Gegnern und Skeptikern Gelegenheit, Zweifel an ihrer Autorität, Kompetenz und der Wirksamkeit ihrer Interventionen zu säen.
Gleichzeitig müssen Menschen angesichts großer Unsicherheit teilweise einschneidende Entscheidungen zu ihrem eigenen Schutz und dem anderer treffen. Entsprechend suchen sie nach Informationen über das Virus und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen oder sind zumindest empfänglich, wenn andere sie auf Informationen aufmerksam machen. In dieser Situation ist es wichtig, auf qualitativ hochwertige Informationen zugreifen zu können. Gleichzeitig sind die Anreize für unterschiedliche Akteure hoch, Fehlinformation zu streuen.
Urheber von gezielten Falschinformationen haben unterschiedliche Motive. Die zwei im Fall von für COVID-19 wahrscheinlich wichtigsten sind einerseite ökonomische Motive: Wenn viele Menschen nach Informationen zu COVID-19 suchen, können Anbieter mit aufsehenerregenden, aber falschen Informationen Besucher auf ihre Seite locken und damit über Werbeanzeigen, den Verkauf angeblicher Heilpräparate und -apparaturen oder der Installation von Malware Geld verdienen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch politische Motive: Unterschiedliche politische Akteure nutzen COVID-19 im politischen Wettbewerb. Dies kann in Form von Übertreibung oder Verharmlosung der Gefahren des Virus geschehen, fälschlicher Ursachenzuschreibungen oder auch der Politisierung von Gegenmaßnahmen.
Gleichzeitig findet sich auch viel „ehrliche“ Falschinformation. Dies sind Informationen, die aus ehrlichen Motiven veröffentlicht und verbreitet werden, die sich im Laufe der Zeit jedoch als falsch herausstellen.
Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit mit zu dem jeweiligen Zeitpunkt als korrekt vermuteten Wissensstand haben Des- und Fehlinformationen in der Regel den Vorteil, dass sie aufsehenerregender sind. Ihre Autoren nutzen Kontroversen, bestehende politische Bruchlinien und Emotionen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Dadurch fallen sie gegebenenfalls stärker auf und werden schneller verbreitet.
Ist das gefährlich? Wenn ja, inwiefern?
Des- und Fehlinformationen können zurzeit besonders gefährlich sein, wenn Menschen ihr Verhalten im Umgang mit COVID-19 auf falsche Informationen stützen. Dies kann persönliche Gefahren mit sich bringen, wenn man wirkungslose oder im schlimmsten Fall sogar gesundheitsschädliche Gegenmaßnahmen trifft oder Wirkstoffe nimmt.
Gleichzeitig können Fehlinformationen auch die Wirkung und Legitimität kollektiver Maßnahmen gefährden, wie zum Beispiel Ausgangsbeschränkungen. In diesem Fall brächten sie gesellschaftliche Gefahren.
Welche Rolle spielen die Sozialen Medien bei deren Verbreitung?
Zuerst einmal muss man sagen, dass Soziale Medien in den ersten Wochen und Monaten der COVID-Pandemie eine der wenigen Quellen waren, mit deren Hilfe man sich zu Natur, Verbreitung und Umgang mit dem Virus umfangreich informieren konnte. Es gibt weiterhin sehr gute Informationen zu COVID-19 auf Sozialen Medien, aber heute muss man sich dort sehr anstrengen, diese in dem Wust anderer Informationen zu finden. Man ist also inzwischen wahrscheinlich besser bedient, sich auf die Berichterstattung etablierter Medienanbieter zu verlassen. Es sei denn natürlich, man hat eine Gruppe von kompetenten und vertrauenswürdigen Quellen in den Sozialen Medien für sich kultiviert.
Bekommt die Verbreitung von Unwahrheiten über Soziale Medien durch die Corona-Pandemie besonderen Auftrieb? Und inwiefern sind sie jetzt gerade womöglich gefährlicher als vor der Pandemie?
Des- und Falschinformationen verbreiten sich auf den Sozialen Medien immer in Zeiten von Unsicherheit oder politischen Streits. Wie ich vorher schon beschrieben habe: COVID-19 ist genau ein solcher Fall. Viel gesellschaftliche Aufmerksamkeit bedeutet hohe potenzielle Gewinne für die Urheber von Desinformationen, und das heißt: Das Angebot steigt.
Gleichzeitig haben wir es auch mit einer Situation zu tun, in der es legitime Unsicherheit über das zugrundeliegende Problem und entsprechende Maßnahmen gibt. Das bedeutet, dass heutige Best Practice morgen schon Fehlinformation sein kann. Dieses gesteigerte Maß an Unsicherheit macht es für Einzelne schwerer, die Glaubwürdigkeit von Informationen und Quellen einzuschätzen.
Gerade Menschen, die ohnehin Zweifel an Medienanbietern oder staatlichen Institutionen haben, zieht es zu alternativen Informationsquellen. Hier kann es dann auch einen besonderen Reiz ausmachen, dass Des- und Falschinformationen sich gegen den Mainstream richten, den die Nutzer dieser Quellen ohnehin schon als „Gegner“ ausgemacht haben.
Gleichzeitig heißt das aber nicht, dass Soziale Medien ursächlich für die Verbreitung von Falschinformationen sind. Zum einen finden wir dort viele Informationen, die im Diskurs der professionellen oder institutionellen Medien und Informationsquellen (noch) nicht berücksichtigt werden. Zum anderen sind einige der einflussreichsten Verbreiter von Zweifel und Falschinformationen politische Akteure. Das beste Beispiel ist natürlich Donald Trump in den USA.
Welche Trends im Umgang der Sozialen Medien mit COVID-19 beobachten Sie?
Die Plattformbetreiber scheinen das Thema sehr ernst zu nehmen. Sie scheinen auch deutlich bereiter zu sein, aktiv einzugreifen, als sie es im Fall politischer Des- oder Falschinformation in Wahlkämpfen typischerweise sind.
Welche Social-Media-Kanäle stehen besonders im Fokus der Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien?
Aufgrund ihrer großen Nutzerzahlen stehen hier Twitter und Facebook natürlich immer im Vordergrund. Gleichzeitig unternehmen diese Plattformen aber auch große Anstrengungen, um Falschinformationen zu identifizieren und ihre Verbreitung zu stoppen.
Ein wahrscheinlich mindestens ebenso wichtiger Verbreitungskanal ist der Messenger-Dienst Whatsapp, da sich hier Menschen in ihrem direkten sozialen Umfeld Informationen weitergeben können. Von außen erhalten wir hier jedoch keinen Einblick, welche Informationen im Umlauf sind, woher sie kommen oder welche Prominenz sie erreichen. Von Berichten durch unabhängige Fact-Checker wissen wir jedoch, dass sie gerade während der Corona-Krise ungewöhnlich hohe Zahlen an Requests für den Test von dort verbreiteten Informationen erreichen.
Mit welchen Mitteln kann die Wissenschaft den Urhebern von ``Fake News`` und Verschwörungstheorien überhaupt erfolgreich entgegentreten?
Aus meiner Sicht ist die erste Frage, die sich Wissenschaftler zurzeit stellen sollten, ob sie tatsächlich auf Basis ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit zu diesem Themenbereich in der Öffentlichlichkeit etwas beitragen können. Nur durch die selbstkritische Antwort auf diese Frage vermeiden wir Wissenschaftler es, selbst zur Unsicherheit und zum Rauschen im Informationsraum beizutragen.
Beispiele für gute Wissenschaftskommunikation gibt es aber viele. In Deutschland ist Christian Drosten mit seinem Podcast im NDR wohl derjenige Wissenschaftler, der zur Zeit die sichtbarsten und hilfreichsten Beiträge leistet. Er bietet ein gutes Beispiel für die Vermittlung von Forschungsergebnissen und -prozessen an eine breite und betroffene Öffentlichkeit. Besonders gut gelingt ihm aus meiner Sicht die Verortung des aktuellen Wissenstands und der zugrundeliegenden Unsicherheit wissenschaftlicher Arbeit und Evidenz-Entwicklung. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte.
Gleichzeitig sieht man am Umgang der Medien mit seinen Aussagen und seiner Person aber auch die Risiken, die es für Wissenschaftler mit sich bringt, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich als Gesprächspartner zur Verfügung zu stellen. Selbst sehr verantwortliche und gelassene Informationsvermittlung und -einordnung in der Öffentlichkeit bietet interessierten Akteuren eben Anlass zur Instrumentalisierung und Politisierung. Hier müssen Wissenschaft und Medien lernen, im Umgang miteinander besser und rücksichtsvoller zu werden.
In Krisenzeiten werden an den Gesetzgeber häufig Forderungen gestellt, durch neue Gesetze auf die besondere Situation zu reagieren. Was halten Sie von rechtlichen Zwangsmitteln gegen die Verbreitung von Falschmeldungen über COVID-19, wie sie beispielsweise Boris Pistorius vorschlug, der Innenminister von Niedersachsen?
Hier wäre ich sehr vorsichtig. Einerseits fehlt uns eine belastbare empirische Basis dafür, wie weitverbreitet Des- und Falschinformationen auf digitalen Medien tatsächlich sind, wie stark sie konsumiert und verbreitet werden, und ob Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich auf ihrer Basis ihr Verhalten anpassen. Es erscheint mir riskant, auf Eindrücken, die zur Zeit doch rein anekdotischen Charakter haben, weitreichende Zwangsmaßnahme auszurollen.
Gleichzeitig sollte die Politik allerdings durchaus prüfen, ob ein durch die Krise ausgelöster Rückgang in der Anzeigenkundschaft eine zusätzliche Bedrohung für die Medienlandschaft bedeutet. Ein durch die COVID-19-Krise ausgelöstes Zeitungssterben könnte weitreichendere Konsequenzen haben als Des- oder Falschinformationen auf Sozialen Medien. Gegenebenfalls könnten hier staatliche Eingriffe und Hilfestellungen also wichtiger sein als der weitgehend symbolische Kampf gegen Des- und Falschinformationen online.
New Publication: The Role of Flag Emoji in Online Political Communication
New journal article in Social Science Computer Review with Ankit Kariryaa, Simon Rundé, Hendrik Heuer, and Johannes Schöning (all computer scientists from University of Bremen). In The role of flag emoji in online political communication we examine usage patterns of flag emoji in tweets published by MPs in Germany and the United States. Here is our abstract:
Abstract: Flags are important national symbols that have transcended into the digital world with inclusion in the Unicode character set. Despite their significance, there is little information about their role in online communication. This article examines the role of flag emoji in political communication online by analyzing 640,676 tweets by the most important political parties and Members of Parliament in Germany and the United States. We find that national flags are frequently used in political communication and are mostly used in-line with political ideology. As off-line, flag emoji usage in online communication is associated with external events of national importance. This association is stronger in the United States than in Germany. The results also reveal that the presence of the national flag emoji is associated with significantly higher engagement in Germany irrespective of party, whereas it is associated with slightly higher engagement for politicians of the Republican party and slightly lower engagement for Democrats in the United States. Implications of the results and future research directions are discussed.
Ankit Kariryaa, Simon Rundé, Hendrik Heuer, Andreas Jungherr, and Johannes Schöning. 2020. The role of flag emoji in online political communication. Social Science Computer Review. doi: 10.1177/0894439320909085 (Online First).
Gastbeitrag: Krise der Demokratie durch digitale Medien?
Im Nachgang zu meinem Vortrag Tatort Demokratie: Digitale Medien im Verdacht am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) baten mich die Organisatoren einige angesprochenen Punkte etwas ausführlicher auszuformulieren. Dem Wunsch bin ich sehr gerne mit diesem Gastbeitrag nachgekommen.
Ein Mitschnitt des Vortrags mit Ralph Schroeder und der anschließenden Podiumsdiskussion steht übrigens auf YouTube.
Krise der Demokratie durch digitale Medien?
Eine Einladung zu weiterer Lektüre.
In unserem Vortrag „Tatort Demokratie: Digitale Medien im Verdacht“ haben Ralph Schroeder und ich die Frage gestellt, ob Befunde der empirischen Sozialwissenschaft die Diagnose stützen, digitale Medien würden zu Demokratiekrisen führen. Ohne Zweifel sind digitale Medien ein wichtiges Element in der Verbreitung und Nutzung politischer Informationen, der politischen Koordination und Partizipation und werden dementsprechend intensiv von politischen Wettbewerbern genutzt. Das macht die politische Nutzung digitaler Medien zu einem wichtigen Thema der aktuellen Sozialwissenschaft. Gleichzeitig heißt es jedoch nicht automatisch, dass digitale Medien zu einer Transformation von Politik oder zu ihrer Krise führen (Jungherr, Rivero & Gayo-Avello, 2020).
Zurzeit scheint es, als würden Herausforderer des politischen Status quo besonders stark durch die Nutzung digitaler Medien profitieren (Jungherr, Schroeder & Stier, 2019). Aktuell darf jedoch bezweifelt werden, dass dies an spezifischen Charakteristiken digitaler Medien liegt. Wahrscheinlicher ist, dass dieser wahrgenommene Vorteil die Konsequenz unterschiedlicher strategischer Entscheidungen klassischer und neuer politischer Akteure in Abhängigkeit von Pfadkontinuitäten und unterschiedlicher Ressourcenausstattung ist.
Aus der öffentlichen Debatte haben wir drei dominante Narrative aufgegriffen, nach denen digitale Medien zu demokratischen Krisen beitragen könnten:
Die Diskussion der entsprechenden Erwartungen und Befunde bietet zugleich Aufschluss über die Bedingungen der sozialwissenschaftlichen Untersuchung politischer Effekte digitaler Medien.
Echokammern und Filterblasen
Die Debatte um Echokammern und Filterblasen geht davon aus, dass digitale Kommunikationsräume für einzelne Nutzer weitgehend homogene Informationsumgebungen darstellen. Das kann entweder an der Möglichkeit für Menschen liegen, sich gezielt Informationen ihres Interesses auszuwählen – Echokammern (Sunstein, 2007) –, oder daran, dass algorithmisch geformte Informationsumgebungen wie Facebook, Google oder Twitter Nutzern überwiegend Informationen anzeigen, für die für die jeweiligen Nutzer eine hohe Verweildauer oder Interaktionschancen vorhergesagt werden – Filterblasen (Pariser, 2011). Konsequenz dieser beiden unterschiedlichen Mechanismen sei eine über die Zeit auftretende gesellschaftliche Polarisierung, da Unterstützer unterschiedlicher politischer Richtungen andere politische Gruppen aus den Augen verlieren und keine ihrer Meinung widersprechenden Informationen erhalten (Sunstein, 2017).
Auch wenn Echokammern und Filterblasen weitgehend unhinterfragte Elemente der öffentlichen Debatte zur politischen Wirkung digitaler Medien sind, bleiben sie in der empirischen Forschung umstritten.
Warum die Diagnose einer demokratischen Krise voreilig ist
Anstatt hier die umfangreiche Debatte in der Literatur anhand von Einzelbefunden nachzuzeichnen, sei auf zwei aktuelle Literaturberichte verwiesen. Borgesius, Trilling, Möller, Bodó, de Vreese und Helberger (2016) und Guess, Lyons, Nyhan und Reifler (2018) bieten umfangreiche und differenzierte Darstellungen des aktuellen Forschungsstands zu Echokammern und Filterblasen und kommen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die Diagnose einer demokratischen Krise auf Basis dieser Konzepte voreilig sei.
Auch wenn es sicherlich möglich ist, in einzelnen Onlineumgebungen weitgehend homogene Kommunikationsräume zu identifizieren, heißt das eben nicht automatisch, dass Menschen ausschließlich in diesen homogenen Umgebungen kommunizieren (Webster, 2014). Für das Auftreten der durch Theoretiker erwarteten gesellschaftlichen Polarisierung müsste das jedoch der Fall sein. Wir sehen aber, dass sich Menschen sowohl in homogenen als auch in heterogenen Informationsumgebungen bewegen und interagieren. Um Effekte dieser unterschiedlichen Kommunikationsumgebungen auf Nutzerverhalten zu untersuchen, braucht es also differenziertere Konzepte als Echokammern und Filterblasen (An, Kwak, Posegga & Jungherr, 2019).
Politische Polarisierung
Eng mit Echokammern und Filterblasen verbunden ist der vermutete Einfluss digitaler Medien auf politische Polarisierung. Angesichts der aktuell allgemein gefühlten Verschärfung des politischen Diskurses scheint diese Vermutung nur natürlich. Aber auch hier gilt es, vorsichtig in Diagnose und Wirkungszuschreibung zu sein.
Es lohnt ein Blick in die USA, einfach weil wir es dort mit dem Ursprungsland von Polarisierungserwartungen und dem daher auch umfangreichsten Literaturstand zu tun haben. Die Angst vor politischer Polarisierung in den USA hat eine Tradition, die deutlich vor die weitverbreitete Nutzung digitaler Medien zurückgeht.
In dieser Debatte wird der Begriff Polarisierung mit unterschiedlichen Prozessen in Verbindung gebracht. Polarisierung könnte darin bestehen, dass Einstellungen zu ausgewählten Fragen in einer gegebenen Population statisch an gegenüberliegenden Polen liegen, sich über die Zeit voneinander entfernen oder in politischen Lagern über verschiedene Einstellungsobjekte hin übereinstimmen. Hierbei kann es sich um gesellschaftsweite Einstellungen, solche unter politischen Unterstützern und Parteimitgliedern oder die politischer Eliten handeln (DiMaggio, Evans & Bryson, 1996).
Polarisierung als Folge der Strategie politischer Eliten
Empirisch zeigen sich in den USA konsistent Muster politischer Polarisierung für politische Eliten und Entscheidungsträger. Für politische Unterstützer zeigt sich Polarisierung besonders bei ausgewählten politischen Fragen, die im Fokus des politischen Wettbewerbs stehen (siehe Fiorina, 2017, Fiorina & Abrams, 2008, Fiorina, Abrams & Pope, 2010). Hier kann Polarisierung also als Folge der Strategie politischer Eliten gesehen werden (Achen & Bartels, 2016).
Von der generellen politischen Polarisierung der amerikanischen Bevölkerung geht die empirische Literatur nicht aus (siehe Fiorina, 2017, Fiorina & Abrams, 2008, Fiorina et al., 2010).
Zusätzlich zeigt die Literatur, dass die Nutzung digitaler Medien zur politischen Information sogar zur Nutzung politisch heterogenerer Informationen führt als die Nutzung anderer Medientypen oder auch persönlicher Gespräche (Gentzkow & Shapiro, 2011). Darüber hinaus zeigen Studien, dass gerade Gesellschaftsgruppen, für die über die Zeit die höchste Polarisierungstendenz erwartet wird, gleichzeitig die Gesellschaftsgruppen sind, in denen die Nutzung digitaler Medien gering verbreitet ist (Boxell, Gentzkow & Shapiro, 2017).
Wenn wir also von Polarisierung als einem demokratischen Problem sprechen wollen, dann ist es ein Problem, das hauptsächlich unter politischen Unterstützern verortet scheint und durch bewusste strategische Entscheidungen politischer Eliten ausgelöst oder verstärkt wird. Digitale Medien dienen hierbei als Verbreitungskanal, sind aber nicht ursächlich.
Desinformation
Aktuelle Debatten über die politischen Effekte von digitalen Medien sind stark von Ängsten vor Desinformation geprägt. Unter Desinformation fallen zum einen die absichtliche Verbreitung von Falschinformationen (Lewandowsky, Stritzke, Freund, Oberauer & Krueger, 2013), die öffentliche Anfechtung von Tatsachen, die der eigenen Agenda widersprechen, beispielsweise durch das Label „Fake News“ (Egelhofer & Lecheler, 2019, Zimmermann & Kohring, 2018), und Praktiken der gezielten Verstärkung irreführender Informationen (Benkler, Faris & Roberts, 2018). Ebenso problematisch ist die oft unbeabsichtigte Verbreitung sachlich falscher Informationen (Southwell, Thorson & Sheble, 2018).
Für ein Thema, das so starke Ängste hervorruft, ist die empirische Grundlage der Debatte über die Gefahren von Desinformation und die Rolle von digitalen Medien eher schwach.
Empfänger von Desinformation scheinen diese unabhängig von Informationsmotiven zu nutzen
Zum einen deuten die wenigen empirischen Tests der Reichweite von Desinformation auf begrenzte Verbreitung (Fletcher, Cornia, Graves & Nielsen, 2018, Grinberg, Joseph, Friedland, Swire-Thompson & Lazer, 2019, Guess, Nagler & Tucker, 2019). Zusätzlich scheinen Empfänger und Verbreiter von Desinformation diese unabhängig von Informationsmotiven zu nutzen (Marwick, 2018). Stattdessen handelt es sich anscheinend eher um die öffentliche Zuschaustellung eigener politischer Identität und Zugehörigkeit.
Studien in den USA haben beispielsweise gezeigt, dass Nutzer, die Desinformationen zugunsten der Republikanischen Partei ausgesetzt waren, diese überwiegend bereits unterstützten, tendenziell älter waren und sich allgemein stark für Politik interessierten (Grinberg et al., 2019, Guess et al., 2019). Dies ist ein Publikum, für das Überzeugung durch Desinformation unwahrscheinlich ist. Stattdessen könnte die Wirkung von Desinformation hier in der Verstärkung bereits vertretener Meinungen, in einer Änderung der als dominant oder akzeptabel empfundenen öffentlichen Meinung oder in der Festlegung der Agenda politischer Unterstützer liegen.
Über die individuelle Ebene hinaus ist es möglich, dass Desinformation – oder die öffentliche Diskussion über Desinformation – zu zunehmenden Zweifeln in politischen und Medieninstitutionen beiträgt und damit im Laufe der Zeit wiederum zur Destabilisierung politischer Systeme (Asmolov, 2019, Farrell & Schneier, 2018, Huang, 2017). Diese Effekte liegen im Bereich des Möglichen, sind jedoch empirisch schwer fassbar.
Warum gibt es widersprüchliche Befunde?
Grundsätzlich ist die Literatur zur Rolle von digitalen Medien in der Politik von Widersprüchen geprägt. Wir finden theoretisch formulierte Erwartungen großer Umbrüche, seien sie nun positiv oder negativ, und wir finden empirische Texte, die selbstbewusst Ergebnisse präsentieren, die unterschiedlichen und widersprüchlichen Theorien recht geben (Jungherr et al., 2020). Das hat mehrere Gründe und erfordert einen vorsichtigen und reflektierten Umgang mit der Literatur.
Zum einen haben wir es mit einer grundsätzlichen Eigenschaft der Sozialwissenschaft zu tun: der Kontextabhängigkeit von Befunden. Sozialwissenschaft befasst sich häufig mit gesellschaftlichen Phänomenen, die das Resultat unterschiedlicher und veränderbarer Rahmenbedingungen sind und die von strategischen oder taktischen Entscheidungen gesellschaftlicher Akteure abhängen können (Flyvbjerk, 2001). Das macht einerseits das Aufstellen sozialwissenschaftlicher Gesetze, anders als in der Naturwissenschaft, in vielen Bereichen hinfällig.
Gleichzeitig heißt es auch, dass man die Ergebnisse einzelner empirischer Studien in der Einschätzung des wissenschaftlichen Wissenstands zu ausgewählten Fragestellungen nicht überbewerten darf. Einzelne empirische Studien können in sich vollkommen schlüssig und valide sein und zugleich von unbeobachteten und unverstandenen Kontextbedingungen bestimmt werden.
Erst die Gesamtschau vieler vergleichbarer Studien zu ausgewählten Fragestellungen erlaubt die Einschätzung des Wissensstands und die Einordnung abweichender Befunde einzelner Studien. Das gilt ganz besonders für die Untersuchung neuer gesellschaftlicher Phänomene wie der politischen Nutzung digitaler Medien, vor allem wenn diese steten Entwicklungs- und Veränderungsprozessen unterliegen (Karpf, 2012, Neuman, Bimber & Hindman, 2011).
Storytelling statt empirischer Befunde
Scheinbare Widersprüche treten auch dadurch auf, dass häufig Konzepte unpräzise angewendet werden. Ein Beispiel hierfür bieten viele Arbeiten zu vermeintlichen Echokammern oder Filterblasen in Onlinekommunikationsräumen. Die Konzepte stellen komplizierte theoretische Ketten von vermuteten psychologischen Motiven, Mediennutzungsverhalten und gesellschaftlicher Konsequenzen her. Wie oben berichtet, erweisen sich diese Ketten als empirisch schwer nachweisbar.
Studien, die Belege für Echokammern oder Filterblasen anführen möchten, beschränken sich in der Regel auf das Aufzeigen homogener Kommunikationsräume online oder der Simulation vermuteter Konsequenzen theoretischer Annahmen (Jungherr, 2017, Jungherr et al., 2020). Das ist grundsätzlich legitim und interessant (An et al., 2019). Auf dieser Basis dann jedoch von demokratischen Krisen zu sprechen ist Storytelling, das eben nicht auf empirischen Befunden basiert.
Wenn wir also widersprüchliche Befunde zur vermeintlichen Schwere demokratischer Krisen oder gesamtgesellschaftlicher Prozesse finden, gilt es, entsprechende Studien präzise zu lesen und so Unterschiede in der Nutzung und Operationalisierung von Konzepten zu identifizieren. Gleichzeitig gilt es, präzise aufzuzeigen, welche Schlüsse der Studien auf Basis tatsächlicher empirischer Ergebnisse und welche Schlüsse auf Basis von Storytelling entstehen.
Einsatz neuer Verfahren
Gleichzeitig stehen Wissenschaftler, die an der Untersuchung der Rolle digitaler Medien in der Politik interessiert sind, vor besonderen methodischen Herausforderungen. Unter dem Begriff Computational Social Science bündeln sich Hoffnungen und Erwartungen von Wissenschaftlern, dass digitale Forschungsumgebungen weitreichende neue Erkenntnisse über Gesellschaft und Politik bereithalten (Lazer, Pentland, Adamic, Aral, Barabasi, Brewer, Christakis, Contractor, Fowler, Gutmann, Jebara, King, Macy, Roy & Van Alstyne, 2009, Salganik, 2017, Watts, 2011).
Dieses Potenzial hat viel Forschungsaktivität freigesetzt. Das hat sich besonders in der Entwicklung neuer Mess- und Klassifizierungsmethoden niedergeschlagen. Doch diese Aktivität birgt nicht nur viel Potenzial, sie bringt eben auch Risiken mit sich. So erlaubt die Verbindung großer verfügbarer Datenmengen und computergestützter Methoden die Entwicklung vieler neuer Methoden und Klassifizierungsverfahren.
Gleichzeitig haben wir es mit einer Publikationskultur zu tun, die die Entwicklung neuer Methoden und Ansätze stärker fördert als ihren systematischen Test. Wir finden also viele neue Ansätze, die in der Untersuchung gesellschaftspolitisch relevanter Fragestellungen verwendet werden, ohne ausreichend auf ihre Validität und Reliabilität getestet worden zu sein (Jungherr, 2017, Jungherr, Schoen, Posegga & Jürgens, 2017, Jungherr & Theocharis, 2017). Widersprüchliche Befunde können also auch der Nutzung neuer, aber unzureichend geprüfter Verfahren und Datensätze geschuldet sein.
In der öffentlichen Debatte dominiert das Bild von manipulativen und übermächtigen Bots
Ein Beispiel hierfür ist die Forschung zum Einfluss automatisierter Accounts, sogenannter Bots, in digitalen Kommunikationsräumen. Während automatisierte Accounts scheinbar gezielt eingesetzt werden, um das öffentliche Meinungsklima in digitalen Kommunikationsräumen zu beeinflussen (Kovic, Rauchfleisch, Sele & Caspar, 2018), steht die Frage im Raum, ob diese Interventionen breiten gesellschaftlichen Einfluss entwickeln können.
Hier deuten Studien auf Basis von eindeutig als Bots identifizierten Accounts – zum Beispiel durch offiziell verifizierte Listen – auf vernachlässigbare Auswirkungen (z. B. Keller, Schoch, Stier & Yang, 2019). Gleichzeitig dominiert in der öffentlichen Debatte das Bild von manipulativen und übermächtigen Bots, die auf Knopfdruck Debatten bestimmen können. Dieses Bild entstand weitgehend auf Basis der Klassifizierung von Bots durch automatisierte Verfahren (z. B. Varol, Ferrara, Davis, Menczer & Flammini, 2017) oder sehr oberflächlicher Faustregeln (z. B. Howard & Kollanyi, 2016). Zudem bemühen sich entsprechende Verfahren nicht ausreichend um die Validierung der verwendeten Methoden und scheinen zu einer deutlichen Überschätzung der Bot-Population zu tendieren (Gallwitz & Kreil, 2019, Kreil, 2020).
Ohne ernst zu nehmende Versuche, das Ausmaß der durch entsprechende Methoden falsch als Bot klassifizierten Accounts einzuschätzen, bleiben entsprechende Methoden interessante Klassifizierungsübungen. Auf dieser Basis allerdings Gefahren für die Demokratie abzuleiten erscheint verfrüht.
Das wiederum heißt nicht, dass die Untersuchung automatisierter oder semiautomatisierter Accounts im öffentlichen Diskurs in Onlinekommunikationsräumen unwichtig oder illegitim ist. Es heißt auch nicht, dass es nicht grundsätzlich denkbar ist, dass entsprechende Accounts Einfluss nehmen können. Es heißt aber, dass überwiegend auf Basis nicht ausreichend validierter Klassifizierungsverfahren geweckte gesellschaftliche oder politische Erwartungen genauso unzuverlässig sind wie die zugrundeliegenden Verfahren.
Es ist vollkommen natürlich, dass sich in der Frühphase der Nutzung neuer Datensets und Methoden wissenschaftliche Befunde und Verfahren im Zeitverlauf als instabil und teilweise auch fehlerhaft herausstellen. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, Neues auszuprobieren und kritisch zu hinterfragen. Probleme entstehen aber, wenn Wissenschaftler entsprechend unsichere Befunde politischen Entscheidern und der Öffentlichkeit ohne den Hinweis auf Vorläufigkeit und Unsicherheit kommunizieren.
Die zugrundeliegende Unsicherheit wird auch nicht notwendigerweise durch umfangreicheren Zugriff von Wissenschaftlern auf Daten aufgehoben. Der Wunsch nach mehr Daten und Einblick in verwendete Algorithmen ist verständlich und gerechtfertigt. Allein hierdurch werden neue Verfahren und Befunde jedoch nicht automatisch sicherer. Das Problem liegt also im Umgang mit notwendig vorläufigen Befunden und Methoden und ihrer Kommunikation.
Forschungsgegenstand im Wandel
Ganz grundsätzlich können auch die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie zu widersprüchlichen Einschätzungen der politischen Rolle digitaler Medien in Öffentlichkeit und Wissenschaft führen.
Der Forschungsgegenstand ist jung, in stetigem Wandel und stark verzahnt mit gleichzeitig ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen wie zum Beispiel der Globalisierung. Es ist daher zu erwarten, dass die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen digitaler Medien indirekt, kontextabhängig und in unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen heterogen ausfallen (Jungherr et al., 2020, Neuman, 2016, Neuman et al., 2011). Diese Erwartungen prägen zunehmend wissenschaftliche Forschungsdesigns und Befunde.
Der öffentlichen Debatte fällt diese differenzierte Sicht jedoch schwerer. Hier dominieren entweder übertrieben starke Hoffnungen für die Freisetzung eines vermeintlich noch unrealisierten demokratischen Potenzials oder ebenso übertriebene Ängste vor der vermeintlich demokratiezersetzenden Wirkung digitaler Medien. Hier besteht natürlich die Versuchung für Wissenschaftler, diese Erwartungen der Öffentlichkeit, politischer Entscheider und Drittmittelgeber zu erfüllen und auf unwahrscheinliche, aber erregende Narrative von Hoffnung und Angst einzuschwenken. Das mag kurzfristig durch Aufmerksamkeit und Forschungsgelder belohnt werden, birgt aber mittelfristig die Gefahr, dass sich gravierende Missverständnisse über die Rolle digitaler Medien in Politik und Gesellschaft verfestigen.
Digitale Medien sind prägende Elemente zeitgenössischer Politik. Ihre Untersuchung sollte daher auch automatisch ein wichtiges Element einer an der Gegenwart interessierten Sozialwissenschaft sein. Gleichzeitig steht Wissenschaft in der Verantwortung, gesellschaftliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse evidenzbasiert und kritisch zu begleiten. Dabei gilt es für Wissenschaftler, der Versuchung zu widerstehen, die ihnen von Politik, Öffentlichkeit und Medien allzu bereitwillig angetragene Rolle von Cheerleadern oder Untergangspredigern zu spielen.
Literatur
Neue Veröffentlichung: Desinformation Konzepte, Identifikation, Reichweite und Effekte
Für einen Workshop der Landesanstalt für Medien NRW habe ich einen kurzen Überblick zum Forschungsstand zur Prominenz und Wirkung von Des- und Misinformation in digitalen Medien verfasst. Die Beiträge für den Workshop wurden nun in einem Sammelband der Landesanstalt für Medien veröffentlicht.
Andreas Jungherr (2020). Desinformation: Konzepte, Identifikation, Reichweite und Effekte. In Was ist Desinformation? Betrachtungen aus sechs wissenschaftlichen Perspektiven. Düsseldorf: Landesanstalt für Medien NRW. S. 23-30.
Öffentlicher Vortrag – Tatort Demokratie: Digitale Medien im Verdacht
Heute Vortrag am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) von Prof. Ralph Schroeder (Oxford Internet Institute) und Prof. Andreas Jungherr (Universität Konstanz) mit anschließender Podiumsdiskussion über die Rolle digitaler Medien in der politischen Kommunikation.
Schlägt man dieser Tage eine Tageszeitung auf, schaltet in eine Diskussionssendung oder klickt auf Meinungsbeiträge in digitalen Medien, entsteht leicht das Bild, die Demokratie befände sich in einer Krise. Eine Krise ausgelöst durch digitale Medien. Die Gefahr von Filterblasen, Manipulation und Desinformation ist im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.
Die Veranstaltung nimmt das Spannungsverhältnis von Demokratie und der Rolle digitaler Medien in den Blick. Schädigen digitale Medien den politischen Kommunikationsraum oder werden sie zu Unrecht diskreditiert? Wie gehen etablierte Akteure sowie neue politische Kräfte mit digitalen Medien um, und mit welchen Folgen? Und welche Rolle spielt die Wissenschaft in Zeiten wachsender Unsicherheit und des Misstrauens?
In Ihrem Vortrag am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) beleuchten Prof. Ralph Schroeder (Oxford Internet Institute) und Prof. Andreas Jungherr (Universität Konstanz) die Rolle digitaler Medien in der politischen Kommunikation und der öffentlichen Meinungsbildung. An der anschließenden Podiumsdiskussion nehmen Prof. Simon Hegelich (TU München) und Dr. Anna Sophie Kümpel (LMU) teil. Die Veranstaltung wird von Prof. Hannah Schmid-Petri (Universität Passau) moderiert.
Interview zum Thema des Vortrags.
Interview: “Wir müssen uns von der passiven Bürgerrolle verabschieden”
Welche Rolle spielen digitale Medien für die politische Kommunikation? Das beleuchtet das bidt auf einer Veranstaltung am 5. Februar. Im Vorfeld erläutert der Politologe Andreas Jungherr, welche Folgen die Digitalisierung für die politische Meinungsbildung hat und warum gerade politische Newcomer von den digitalen Medien profitieren.
Wie verändern digitale Medien den politischen Kommunikationsraum?
Die digitalen Medien schwächen die Kraft von etablierten politischen Gruppen. Vor zehn, fünfzehn Jahren war es für politische Parteien noch notwendig, dass die traditionellen Medien deutschlandweit ihre Position aufgreifen, damit sie wahrgenommen werden. Verglichen mit heute waren die Medien unabhängiger in ihren Entscheidungen, worüber sie berichten, da ihre ökonomische Situation stabiler war. Sie hatten es nicht nötig, über jede Provokation im politischen Raum zu berichten. Zudem war die Zahl der Medien begrenzt. Sie konnten so der politischen Kommunikation Struktur geben und mitbestimmen, welcher Ton in der politischen Debatte zugelassen war.
Das ist heute nicht mehr der Fall. Heute kann jeder seine Position über die digitalen Medien vorbringen und sie kann von jedem gehört werden. Über die Kanäle der sozialen Medien lassen sich viele Menschen erreichen. Zugleich ist der ökonomische Druck höher, unter dem Medien heute stehen. Das führt dazu, dass Provokationen von politischen Akteuren über viele Onlinemedien verbreitet werden. Nehmen Sie zum Beispiel den Wahlkampf von Donald Trump, der gezielt auf Regelverstößen basierte. Die Medien haben diese bereitwillig aufgegriffen, da es auch ihren eigenen Einschaltquoten zugutekam.
Was bedeutet das für traditionelle Medien, die Themen aus dem digitalen Raum aufgreifen? Sollten sie auf manches einfach nicht aufspringen?
Das sagt sich so leicht. Aber die Frage ist, ob Medien diesen Handlungsspielraum heute noch haben. Können sie überhaupt einflussreich sein, wenn sie über Dinge nicht berichten, die online einen großen Raum einnehmen? Das alleinige Ausblenden von politischen Provokationen hilft nicht mehr. Hilfreicher wäre, sie zu kontextualisieren: eine Provokation nicht einfach als Tatsache berichten, sondern sie in ihren Zusammenhang stellen. Die Herausforderung für Medien ist dabei, dass sie nicht selbst als politische Akteure wahrgenommen werden.
Digitale Medien sind weder eine Gefahr noch eine Chance. Es ist der Umgang mit ihnen, der sie dazu macht.
Was bedeuten digitale Medien also für Demokratien?
Digitale Medien sind weder eine Gefahr noch eine Chance. Es ist der Umgang mit ihnen, der sie dazu macht. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren sah sich die Politik mit dem Vorwurf konfrontiert, das politische System sei abgehoben, zu technokratisch, der Einzelne habe kaum Einfluss. Mit den digitalen Medien sind die politischen Alternativen nun auf einmal da. Mal heißen die Herausforderer Barack Obama, der in seinem ersten Wahlkampf 2008 um die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur sehr von digitalen Medien profitiert hat, mal Donald Trump. Die Frage ist, wie sich sicherstellen lässt, dass neue politische Herausforderer den demokratischen Austausch weiterbringen. Ich glaube, wir müssen uns von der passiven Bürgerrolle verabschieden. Damit das demokratische System stabil bleibt, wird sich auch der Einzelne stärker einbringen müssen.
Things are getting real!
Coming to a book shop near you in June!
Andreas Jungherr, Gonzalo Rivero, and Daniel Gayo-Avello. 2020. Retooling Politics: How Digital Media are Shaping Democracy. New York: Cambridge University Press. (Coming in June).
Neue Veröffentlichung: Kommunikation auf Sozialen Netzwerkplattformen
Für das neue Handbuch Einstellungs- und Verhaltensforschung habe ich einen Überblickstext zur Rolle von Kommunikation auf Sozialen Netzwerkplattformen in politischer Kommunikation und Einstellungsbildung geschrieben [Preprint]. Der Text bietet hierzu einen aktuellen Forschungsüberblick.
Auch wenn die Forschung zur Rolle von Sozialen Netzwerkplattformen in der politischen Kommunikation noch am Anfang steht lassen sich bereits einige interessante Punkte in der Forschung identifizieren. Der Text spricht hier neben konzeptionellen, methodischen und grundsätzlichen Fragen zur Funktion dieser Plattformen die folgenden Themen an:
Soziale Netzwerkplattformen als
Eine wichtige bisher in der Forschung noch unterrepräsentierte Perspektive ist die Untersuchung von Sozialen Netzwerkplattformen als Institutionen, die politischen Informationsfluss in Gesellschaften formen:
Die institutionelle Verzahnung zwischen Nachrichtenorganisationen, politischen Akteuren und den Betreibern sozialer Netzwerkplattformen bietet ein reiches bisher nur oberflächlich angerissenes Forschungsobjekt. Mit der steigenden Bedeutung sozialer Netzwerkplattformen als Quelle politischer Information stellt sich auch zunehmend die Frage nach der Transparenz und Regulierung von Algorithmen und Werbung, die Inhalte ausgewählten Nutzergruppen sichtbarer machen oder unsichtbar halten.
Hier liegen auch beträchtliche Forschungspotentiale in der Nutzung von Methoden der Computational Social Science (CSS). Neue umfangreiche Datensätze, die auf Sozialen Netzwerkplattformen gesammelt werden können bieten detaillierte Einblicke in Nutzerverhalten, algorithmisch gesteuerte Eingriffe in individuelle Informationsräume oder das gezielte Targeting von Nutzergruppen durch Anzeigen. Die CSS verspricht also empirisch messbaren Einblick in das Verhalten von Plattformen in abhängig interner und externer Governance. Dies setzt jedoch voraus, dass die CSS aktuelle methodologische Herausforderungen erfolgreich überwindet.
Die Fragen der institutionellen Eigenschaften, Verzahnung und Regulierung von digitalen Plattformen und die Entwicklung der Computational Social Science werden Gesellschaft und Politikwissenschaft in den nächsten Jahren noch ausgiebig beschäftigen. Warum also nicht jetzt schon einsteigen?
Aber auch für Lektüre über Soziale Netzwerkplattformen hinaus bietet der Sammelband viel Spannendes. Den Herausgeber Thorsten Faas, Oscar W. Gabriel und Jürgen Maier ist eine sehr interessante und nützliche Zusammenstellungen von Texten zu unterschiedlichen Aspekten der aktuellen Einstellungs- und Verhaltensforschung gelungen.
Andreas Jungherr (2020). Kommunikation auf Sozialen Netzwerkplattformen. In Einstellungs- und Verhaltensforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium, Hrsg. Thorsten Faas, Oscar W. Gabriel und Jürgen Maier. Baden-Baden: Nomos. S. 184-206. [Preprint]
“Retooling Politics” has a cover now!
The finish line comes into sight: We have a cover now!
Coming to a book shop near you in June!
Donald Trump, the Arab Spring, Brexit: Digital media have provided political actors and citizens with new tools to engage in politics. These tools are now routinely used by activists, candidates, non-governmental organizations, and parties to inform, mobilize, and persuade people. But what are the effects of this retooling of politics? Do digital media empower the powerless or are they breaking democracy? Have these new tools and practices fundamentally changed politics or is their impact just a matter of degree? This clear-eyed guide steps back from hyperbolic hopes and fears to offer a balanced account of what aspects of politics are being shaped by digital media and what remains unchanged. The authors discuss data-driven politics, the flow and reach of political information, the effects of communication interventions through digital tools, their use by citizens in coordinating political action, and what their impact is on political organizations and on democracy at large.
In the book, we talk about:
- The rise of digital media and the retooling of politics
- The flow of political information
- Reaching people
- The effects of political information
- Digital media and collective action
- Changing organizations
- Data in politics
- Digital media and democracy
- Digital media in politics.
Andreas Jungherr, Gonzalo Rivero, and Daniel Gayo-Avello. 2020. Retooling Politics: How Digital Media are Shaping Democracy. New York: Cambridge University Press. (Coming in June).